»Weisheit« ist das Abstraktum von »weise«. Die Bedeutung von »weise« erschließt sich zum Teil bei einem Blick in das etymologische Wörterbuch. Der Wortstamm geht demnach sowohl althochdeutsch, mittelhochdeutsch und altslawisch auf »wis« zurück, indogermanisch »weisdo«, was sowohl wissend, klug und weise bedeutet. Im gotischen finden wir »weis«, im altnordischen hingegen »viss«, wobei es eine Vermischung mit »gewiss« geben soll. Die Eigenschaft »Wissend« wurde dann übrigens von unseren Vorfahren auch völlig wertfrei negiert in »nicht wissend«, gotisch »unweis«. Heute bedeutet »weise« im engeren Sprachsinne zunächst: »durch Wissen charakterisiert«.
Ist das schon alles? Wissen als Maßstab von weise? Also: Ich weiß viel und bin weise?
Das widerspricht unserer Lebenserfahrung und dem, wie wir das Wort »weise« oder »Weisheit« heute im Allgemeinen anwenden. Trotz der Wortentwicklung aus »Wissen« gibt es heute noch eine tiefere Bedeutung des Wortes »Weisheit«. Weisheit, lat Sapientia kennzeichnet eine menschliche Eigenschaft, die als eine der Kardinaltugenden angesehen wird.
Weisheit wird im Allgemeinen assoziiert mit einem erfahrenen Menschen in zumeist fortgeschrittenem Alter, der mit auftretenden auch außergewöhnlichen Schwierigkeiten sicher umzugehen weiß und dessen Rat sehr geschätzt wird, weil dieser dabei hilft, wesentliche Probleme zu überwinden. Ein berühmtes Beispiel ist Salomo, der biblische König Israels und Sohn Davids. In der katholischen Bibel gibt es ein Buch der Weisheit, das sich auf ihn bezieht. Allerdings fallen mir auch aus meinem Umfeld einige Menschen ein, die ich zumindest in diese Richtung einordnen würde. Es sind meist sehr angenehme Menschen, umgänglich, streitvermeidend und mit hoher sozialer Kompetenz, die sich nicht von fremden Meinungen und unvorhersehbaren Zwischenfällen aus der Bahn werfen lassen. Der japanische ZEN-Meister Eihej Dogen schrieb in der ersten Hälfte des 13. Jh.:
Ein wirklich weiser Mensch ist wie ein stabiles Schiff, das die Gewässer des Alters, der Krankheit und des Todes kreuzt, wie ein leuchtendes Licht in der Dunkelheit des Unwissens, wie gute Medizin für die Kranken und wie eine scharfe Axt, die den Baum der Täuschungen fällt.
Zur Weisheit gelangt man vor allem über die Selbsterkenntnis. Doch auch ohne Erfahrung in einem menschlichen Gemeinwesen kann man keine Weisheit erlangen. Laotse schreibt nicht ohne Grund im 6. Jh. v. u. Z. im Tao Te King:
Wer andere kennt, ist klug, wer sich selbst kennt, ist weise.
Die Offenheit für neue Erfahrungen ist dafür wesentlich. Wenn wir in der Lage sind, einmal gemachte Einsichten immer wieder in Frage zu stellen, indem wir diese mit neuen Erfahrungen konfrontieren, dann können wir durch jene neue Konfrontation einen Zuwachs an Weisheit gewinnen.